Aufbruch ins All
Der Aufbruch ins All und die Raumfahrt hatten für die ehemalige Sowjetunion und ihre Verbündeten eine ganz besondere Bedeutung. Als herausragendes Ereignis gilt dabei der 12. April 1961, jener Tag, an dem Juri Gagarin als erster Mensch ins Weltall flog. Das Deutsche Technikmuseum in Berlin zeigt anlässlich des 60. Jahrestages dieses Ereignisses 49 Fotografien aus dem Projekt „Cosmic Culture“ von Dieter Seitz.

SDTB / Foto: Dieter Seitz
Die Faszination der Sowjetunion mit der Raumfahrt fand ihren Niederschlag in Gebäudekunst und Denkmälern ebenso wie in kleinen Alltagsgegenständen. Der Bonner Fotograf Seitz hat sich auf die Suche nach dieser kosmischen Kultur begeben. Seine Bilder zeigen ebenso unspektakuläre wie überraschende Szenarien im öffentlichen Raum, und sie führen uns vor Augen, wie die Kosmos-Ästhetik auch in den Privathaushalten angekommen war. Die Bandbreite reicht von großen Wandfresken bis hin zu Zigarettenpackungen und Teeglashaltern mit Raketenmotiven. Ergänzt werden diese dinglichen Motive durch Porträts von alten und jungen Menschen, die im sowjetischen und russischen Weltraumprogramm oder in weltraumnahen Tätigkeiten ihren Beruf und ihre Berufung gefunden haben.
Faszination Weltraum
Schon immer war der Mensch vom Weltall fasziniert. Der Traum von den Sternen und der Reise ins Außerirdische hat die Sehnsüchte vieler Kulturen geprägt – lange bevor eine „Eroberung des Kosmos“ technisch möglich schien. Der tatsächliche Aufbruch ins All war jedoch ein hoch politisches Ereignis: Als mit dem sowjetischen Sputnik 1957 der erste künstliche Satellit die Erde umkreiste, löste das im Westen den „Sputnikschock“ aus. Der Weltraum-Flug des sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin bildete den Auftakt des „Wettlaufs zum Mond“, den 1969 die USA für sich entschieden. Die Raumfahrt war Teil der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West und für beide Seiten Gegenstand politischer Propaganda im Kalten Krieg dieser Zeit.
Wandmosaik von Fritz Eisel am ehemaligen Rechenzentrum Potsdam. Es zeigt Kosmonaut Alexei Leonow, der am 18. März 1965 als erster Mensch einen Weltraumspaziergang absolvierte. Potsdam, 2020. (Cosmic Culture No. 180)
SDTB / Foto: Dieter Seitz
Der Sandmann flog in mehreren Episoden des DDR-Kinderfernsehens als Kosmonaut ins All. Das Foto entstand in der Requisiten-Sammlung von „Unser Sandmännchen“ in Berlin-Köpenick, 2019. (Cosmic Culture No. 120)
SDTB / Foto: Dieter Seitz
Die technische Programmiererin erstellt seit 1980 Simulationsprogramme für die Kosmonauten-Trainings im Gagarin Cosmonaut Training Center (GCTC), Swjosdny Gorodok (Russische Föderation), 2019.
SDTB / Foto: Dieter Seitz
Kosmos-Ästhetik im Alltag des Ostens

Foto: Dieter Seitz
Aber auch jenseits der großen Politik fand die Faszination der Raumfahrt in der damaligen Sowjetunion Eingang in das Leben der Menschen. Mit Verzögerung geschah dies auch in der DDR und anderen osteuropäischen Staaten.
Motive und Symboliken des Kosmos prägten die Gestaltung von Artefakten des öffentlichen und privaten Raums: Weltraummotive finden sich auf Massenprodukten wie Zigarettenpackungen, Textilwaren, Uhren und Anstecknadeln; sie verdichten sich in allegorischen Porzellanfiguren. Der Kosmos inspirierte die Form- und Namensgebung von Gebrauchsgegenständen. Im Straßenbild wurde die Weltraum-Ästhetik omnipräsent in Gestalt von Architektur, Wandmosaiken und Skulpturen. Kurzum: Der „Kosmos“ wurde in unterschiedlichsten Facetten Teil der Alltagskultur. Die Ausstellung „Cosmic Culture“ zeigt die vielfältigen Einflüsse dieser Kosmos-inspirierten Ästhetik auf das Alltagsleben der Menschen im Osten. Obgleich die Raumfahrt nach den Pionierjahren nicht mehr von spektakulären Ereignissen bestimmt war, blieb die Kosmos-Ästhetik in der Alltagskultur des Ostens weiter präsent.
"Am liebsten würde man gleich mit dem Sputnik abheben!"
Mit Auflösung der Sowjetunion 1991 und der folgenden Krise verloren dann aber die gesellschaftlichen Werte, mit denen der „Kosmos" verknüpft war, schlagartig an Bedeutung. Jetzt konnte auch seine Ästhetik, wie vieles andere, durch westliche Konsumwaren mühelos verdrängt werden. Mit der Intensivierung der russischen Raumfahrt zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden auch Erinnerungen an die frühere Kosmos-Kultur wieder rekultiviert. Die Bilder von „Cosmic Culture“ reflektieren, wie diese Ideen und Utopien weiterleben und wie der „Kosmos" heute auf neue Weise wieder ins Spiel kommt.
Eine Spurensuche durch sieben Länder
Zwischen 2016 und 2019 begibt sich der Fotograf Dieter Seitz auf die Suche nach den Relikten der Kosmos-Kultur. Einst massenhaft hergestellte Gebrauchsgüter sind 30 Jahre nach dem Niedergang dieses Gesellschaftssystems kaum noch aufzuspüren. Seitz findet sie an entlegenen Orten, auf belebten Plätzen und in abgeschirmten Sicherheitszonen, in Museen, Privatsammlungen und in verborgenen Archiven. Tausende Kilometer führen ihn durch Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan, Usbekistan und Georgien sowie in den Osten Deutschlands.
Unterwegs begegnet er Menschen aller Generationen, die mit und von der Raumfahrt leben. Ihre Porträts zeigen, wie aus dem einstigen Mythos Alltagsrealität, Geschäft, Berufung – oder auch ganz normale Jobs geworden sind.
„Cosmic Culture“ ist eine umfassende Dokumentation eines ästhetischen Phänomens, das in seiner Vielfalt, Verbreitung und Verankerung in der Alltagskultur des Ostens einzigartig war. Darüber hinaus macht Dieter Seitz mit seinen assoziativen Bildfolgen etwas von jenem Lebensgefühl spürbar, das in diesen Ländern eine ganze Generation mitgeprägt hat.
Einer der letzten erhaltenen Weltraumanzüge für Hunde. Zwischen 1951 und 1961 schickte die Sowjetunion meist Straßenhunde zu Testzwecken dutzendfach ins All. Moskau, 2018. (Cosmic Culture No. 112)
SDTB / Foto: Dieter Seitz
Wandmosaik mit Raumfahrtmotiv an einem 12-stöckingen Wohnhaus aus den 1970er Jahren in der Bergarbeiterstadt Karaganda (Kasachstan), 2017. (Cosmic Culture No. 161)
SDTB / Foto: Dieter Seitz
Gründungsdenkmal der Weltraumstadt Baikonur (Kasachstan), 2018. Cosmic Culture No. 145)
SDTB / Foto: Dieter Seitz
Der Fotograf
Dieter Seitz, in Stuttgart geboren, studierte an der Universität der Künste, Berlin, an der Freien sowie der Technischen Universität Berlin. Er wurde 2017 an die Deutsche Fotografische Akademie (DFA) berufen. Der Designer, Soziologe und freie Fotograf lebt und arbeitet in Bonn.
Seit 2004 liegt der Fokus seiner künstlerischen Ausstellungs- und Buchprojekte auf Themen gesellschaftlicher Umbrüche wie in den ehemaligen Sowjetrepubliken (Kasachstan 2009; Virtual Landscapes, 2015; Nomads Land, 2017) sowie sozialer Spannungsfelder (Indien 2006-2008, Griechenland 2011-2013). Zuletzt ist erschienen: Cosmic Culture. Sowjet Space Aesthetics in Everyday Life, 2019. Dieser Band wurden beim Deutschen Fotobuchpreis 20/21 in der Kategorie „Konzeptionell-künstlerischer Fotobildband“ mit Silber ausgezeichnet.
Die Arbeiten von Dieter Seitz wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in Deutschland und international gezeigt.
Mehr zu Cosmic Culture und seinen Arbeiten findet sich auf der Website des Fotografen und auf seinem Instagram-Kanal.
Mehr Informationen zu der Publikation "Cosmic Culture" finden Sie auf der Website des Verlags.
Die Aufzeichnung des Pressetermins inklusive Ausstellungsrundgang mit dem Fotografen und dem Kurator ist auf der Youtube-Seite des Museums veröffentlicht.